Anfangs wollt ich fast verzagen

 

Und ich glaubt ich trüg es nie,

 

Und ich hab es doch getragen,

 

Aber fragt mich nur nicht wie.

 

(Heinrich Heine)

 

 

 

Der Tod eines Kindes erfasst die einzelne Persönlichkeit und das gesamte soziale Umfeld

 

Unfassbar, was man niemals für möglich gehalten hat, ist eingetreten: Unser Kind ist gestorben. Man weiß nicht ob –und schon gar nicht wie - man weiterleben kann.

 

 

Trauer als Persönlichkeitskrise

 

Viele Väter, Mütter, Geschwister und Großeltern haben nach dem Tod eines Kindes das Gefühl, verrückt zu werden. Es geschieht so viel in ihnen und um sie herum, das sie nicht verstehen. Sie denken, fühlen und handeln auf eine Weise, die Ihnen möglicherweise völlig befremdlich und damit beängstigend erscheint. Das Leben ist plötzlich eine Achterbahn und man versteht sich und die Welt - vorübergehend- nicht mehr.

 

Schock

 

Viele Trauernde erleben die erste Zeit direkt nach dem Tod des Kindes wie in einem Schockzustand. Das ist ein sehr schlauer Schutzmechanismus der Seele. Nichts erreicht einen wirklich. Man handelt oft erstaunlich klar und zielgerichtet. Man regelt und plant die Beerdigung, die Benachrichtigung von Freunden und Verwandten, etc. Später sind die Betroffenen oft erstaunt, was sie alles gemeistert haben in dieser Zeit. Oft haben sie Dinge getan, zu denen sie später nicht mehr in der Lage gewesen wären. Zu einem Zeitpunkt nämlich, an dem der Schutz ein wenig nachlässt und die Bedeutung dessen, was geschehen ist, so allmählich ins Bewusstsein und ins Herz vordringt.

 

Die Zeit der aufbrechenden Gefühle

 

Wenn wir so ganz langsam begreifen, was wirklich geschehen ist, dass unser Kind wirklich und unwiederbringlich tot ist, erahnen wir, welche Veränderung das für uns und unser Leben bedeutet.

 

Dies ist wohl die schwierigste Zeit der Trauer. Der Schmerz, die Sehnsucht, die Verzweiflung ergreifen von uns Besitz mit voller Macht. Die meisten Trauernden berichten von einem Gefühlschaos:

  • Schuldgefühle, ob berechtigt oder unberechtigt, sind normal. Gefühle, dass das Kind noch leben könnte, wenn man dies oder jenes anders gemacht hätte, erleben viele Eltern. Ebenso Schuldgefühle , weil man dem Kind einen Wunsch erfüllt oder eben nicht erfüllt hat, dass man etwas gesagt oder nicht gesagt hat…
  • Verzweiflung und Einsamkeit sind normal. Selbst dann, wenn man eine große Familie oder einen großen Freundeskreis um sich hat, kann man sich einsam fühlen. Nur wenige Menschen werden verstehen, wie tief die Trauer geht, was man empfindet, es sei denn, sie haben Ähnliches erlebt.
  • Wut oder Rachegefühle entstehen ebenfalls oft. Manchmal richten sie sich gegen eine bestimmte Person von der man glaubt, dass sie verantwortlich ist am Tode des Kindes. Manchmal aber richten sich diese Gefühle auch gegen Gott oder das verstorbene Kind. Es kann auch sein, dass Wut einfach ein Gefühl ist, das einen für eine Weile begleitet, ohne sich gegen eine bestimmte Person zu richten. Man ist dann wütend auf alles und auf jeden. Das ist normal.
  • Neid ist ein Gefühl, für das viele Betroffene sich schämen. Dennoch ist es da - und das ist normal. Man ist neidisch auf andere Menschen, denen solche Schicksalsschläge erspart bleiben, die so unverschämt unbeschwert daher leben, deren Kinder leben dürfen, manchmal sogar, obwohl sie ihre Kinder als Last empfinden, während man sein Kind geliebt hat.

 

 

In dieser Zeit wechseln unsere Gefühle von Tag zu Tag , manchmal von Stunde zu Stunde , von einer Minute zur anderen. Unser Fühlen und Denken ist unberechenbar – für uns selbst und auch für unsere Mitmenschen .Wir verstehen uns selbst nicht, wie sollen uns da andere Menschen verstehen? Das sollten wir durchaus im Auge behalten, es wird uns vielleicht etwas nachsichtiger machen. Nachsichtiger mit uns und mit unserer Umwelt.

 

So ganz allmählich stellen wir dann fest, wie sich doch einige kleine Veränderungen einstellen. Wir erleben durchaus erste Tage, an denen wir uns gut fühlen, an denen die Dankbarkeit für das was wir hatten größer ist, als die Verzweiflung es verloren zu haben.

 

Friedrich Rückert, der um zwei seiner Kinder trauert, die 1833 innerhalb weniger Tage an Scharlach starben, schreibt in einem solchen Moment in seinem Buch: Kindertodtenlieder:

 

So weit nun hab`ich’s schon gebracht

 

Mit meinem Schmerz bei Tag und Nacht,

 

Daß ich dich lieber weiß begraben,

 

Als sollt ich nie gehabt dich haben.

 

Doch daß ich nicht, wär mirs verliehen,

 

Dich wieder möcht` hernieder ziehen

 

Mit meinem Schmerz bei Tag und Nacht,

 

Soweit hab` ich’s noch nicht gebracht.

 

 

Neuorganisation oder Investition in die Zukunft

 

Der eine oder andere Gedanke an eine Zukunftsplanung schleicht sich in unser Denken. Wir spüren, dass sich unsere Trauer verändert. Wir können den Gedanken zulassen, eventuell aus dem Kinderzimmer ein Gäste-oder Arbeitszimmer zu machen. Wir buchen einen Urlaub, wie er vielleicht mit dem Kind nicht möglich gewesen wäre. Wir ordnen unser Leben neu. An manchen Stellen erschreckt uns das, aber es ist in Ordnung, ja, es ist notwendig. Unser Kind lebt in uns weiter. Diese Gewissheit begleitet uns in allem Tun.

 

Der Tod eines Kindes bedeutet auch Familienkrise

 

Wenn ein Kind stirbt, so bleiben Väter, Mütter, Geschwister, Familien zurück, die in den Grundfesten ihres Seins, ihrer jeweiligen Persönlichkeiten und ihrer sozialen Bezüge erschüttert sind. Persönlichkeit und Familienstruktur geraten aus dem Gleichgewicht. und müssen neu gefunden werden. Vielleicht mag das folgende Bild veranschaulichen, was damit gemeint ist, wenn man sagt: Der Tod zerreißt das Geflecht an Rollen, Funktionen und Beziehungen:

 

Stellt man sich eine Familie als Mobile vor, das ohnehin schon bei jedem Luftzug sein Gleichgewicht austarieren muss.

 

Nun wird ein Teil des Mobiles abgeschnitten. Das Mobile hängt schief – aus dem Gleichgewicht gekippt, aus der Bahn geworfen. Trauerarbeit heißt nun, dieses Mobile, dieses Familiengefüge wieder in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Ein Gleichgewicht, das sich an die veränderte Situation angepasst hat. Am Ende des Prozesses wird jeder seinen Platz, seine Position verändert haben. Niemand wird mehr an seinem alten Platz sein. Bis das Mobile wieder einigermaßen stabil in der Waage hängt, ist es ein oftmals langer und schwerer Weg voller zusätzlicher enttäuschter Erwartungen aneinander und Verletzungen. Es ist ja niemand da, der als Regisseur Anweisungen geben könnte. Es wird versucht und ausprobiert gewissermaßen nach dem Modell: Versuch und Irrtum. So mag es sein, dass die Mutter ein Geschwisterkind zunächst ganz eng an sich zieht, dieses sich aber auf Dauer eingeengt fühlt und sich infolge seines eigenen Entwicklungsauftrages vehement ablöst. Das wird möglicherweise bei der Mutter zu neuerlicher Verletzung und einem Sich ungeliebt Fühlen führen. Dies ganz besonders auch, weil man als direkt Beteiligter zu wenig Abstand vom Geschehen hat, um die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit solchen Geschehens erkennen zu können Ebenso kann es geschehen, dass die Mütter der Mütter sich selbst ganz zurückziehen( oft weil sie zusätzlich zur Trauer um das Enkelkind es einfach nicht verkraften, ihr eigenes Kind, die Tochter ,so leiden zu sehen.) Zurück bleiben dann Enkelkinder, die die Großmutter vermissen und eine Tochter, die sich ausgerechnet in ihrer schwersten Zeit von der Mutter verlassen fühlt.

 

Die Familie zusammenhalten

 

Partnerschaft

 

Viel zu viele Psychologen und Helfer sind der Meinung, dass eine Scheidung nach dem Tod eines Kindes so gut wie vorprogrammiert sei. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass Trauer die Beziehung zwar enorm belastet, es aber viele Unterstützungsmöglichkeiten gibt, um an dieser Situation gemeinsam zu wachsen. Wenn es nicht auch schon vor dem Tod des Kindes gravierende Probleme in der Ehe gab, geschieht es sogar recht oft, dass die Verbindung eher noch stärker wird.

 

Jeder trauert anders, jeder braucht seine eigene Zeit. Das gilt auch für Partner und alle anderen Familienmitglieder. Dieser  manchmal sogar sehr konträre Umgang mit der Trauer erzeugt Spannung und erfordert sehr viel Toleranz und Verständnis im Umgang miteinander, damit aus Verschiedenheit nicht Trennung wird. Um diese Toleranz, diese Akzeptanz des Anderen kann man sich aber bemühen. Wir können lernen, dass nicht jedes Anders-Sein ein Ausdruck von mangelnder Liebe oder Trauer ist. Trotzdem ist Arbeit und vor allem Verständnis für unterschiedliche Trauerverarbeitung erforderlich.

 

Jürg Willi, ein Schweizer Paartherapeut schreibt in seinem Buch: Was hält Paare zusammen?,

 

„…dass trotz Liebe und Anpassungsbemühungen die Erlebniswelten zweier Partner verschieden bleiben…Ein und dasselbe Ereignis wird von zwei Partnern aus ganz verschiedenen Perspektiven wahrgenommen, ( auch der Tod eines Kindes also, Anmerkung der Verfasser) ohne dass die beiden sich dessen bewusst sind. Wie aber können sie sich dennoch finden und miteinander auskommen? Wenn die beiden ihr letztliches Getrenntbleiben in der Liebe als schmerzliche Gegebenheit akzeptieren, gewinnen sie eine für ihr Zusammenleben entscheidende Grundhaltung: Die Verschiedenheit ihrer Sichtweisen regt die Partner immer wieder von neuem an, einander zu suchen, sich auseinanderzusetzen und so die eigene Sichtweise durch die des Partners zu ergänzen, zu erweitern und zu differenzieren.“

 

Eine Partnerschaft, die von dieser Überzeugung getragen ist, sich notfalls Hilfe sucht um das für sich umzusetzen, wird in der Trauer eher zusammenwachsen. Harte Arbeit bedeutet es dennoch – und das Gefühl von Einsamkeit in der Partnerschaft muss auch ertragen werden können.

 

Geschwisterkinder

 

Überlebende Geschwisterkinder werden oft als die „vergessenen Trauernden“ bezeichnet, da sich so viel Aufmerksamkeit auf die Eltern richtet. Die Geschwisterkinder sollten niemals das Gefühl haben, dass sie weniger wichtig sind, jetzt wo die Gedanken der Eltern ständig beim verstorbenen Kind verweilen. Offene und ehrliche Kommunikation ist das Geheimnis, wie man in einer solchen Situation die Familie zusammenhält.

 

Der körperliche Aspekt von Trauer

 

In dieser gesamten Zeit machen wir eine vielleicht überraschende Erfahrung: Trauer erfasst den gesamten Menschen. Trauer spielt sich nicht nur in unserer Seele ab. Trauer spiegelt sich mitunter durchaus in körperlichen Symptomen wider.

 

Manchmal schlafen Eltern nur ein paar Stunden –wenn überhaupt - pro Nacht. Müdigkeit, sich wie von dickem Nebel oder Watte umgeben zu fühlen, Konzentrationsschwäche, Schwäche des Kurz- und Langzeitgedächtnisses, Herzschmerzen, Magenprobleme, Gewichtsverlust oder Gewichtszunahme, das alles ist nicht ungewöhnlich. Der Schlafentzug und der extreme Stress führen häufig dazu, dass sich das Denken verändert und man glaubt, den Verstand zu verlieren, aber auch das ist eine normale Reaktion.

 

 

 

Entscheidungen treffen

 

Wenn ein Kind gestorben ist, sehen sich die Eltern oft mit Entscheidungen konfrontiert, die die Zukunft betreffen. Arbeitsplatzwechsel und Umzug sind zwei große Entscheidungen, die oft diskutiert werden. Manchmal geschieht dies in der Hoffnung, dass man sich dann besser fühle. Diese Hoffnung erfüllt sich nur sehr selten. Oft genug wird die Entscheidung hernach bedauert, da eigentlich alles eher schwieriger geworden ist.

 

Auch hierzu schrieb Friedrich Rückert seine Gedanken auf:

 

 

 

Dies Haus, in welchem ich das tiefste Leid erfuhr,

 

Wo ich die Liebsten sah erblassen,

 

Soll ich es lieben, soll ichs hassen?

 

Drin wohnen bleiben, es verlassen?

 

Wo überall mir ist die Spur

 

Lebendig meiner Todten nur?

 

 

Höhen und Tiefen

 

Trauer dauert mit ihren vielen Höhen und Tiefen viel, viel länger als die Gesellschaft es wahrhaben will. Wenn ein Kind stirbt, ist die Zeit des Trauerns nicht nach einer Woche oder einem Jahr vorbei. Erwartungen, die andere haben, sollte man niemals als Richtlinie akzeptieren.

 

Alle Menschen gehen diesen emotionalen Prozess ganz unterschiedlich an. Einigen fällt es leicht, ihre Trauer offen zum Ausdruck zu bringen, andere behalten diese Gefühle für sich.

 

Wie kann ich der Zukunft entgegensehen?

 

Eltern haben häufig das Gefühl, dass das Leben keinen richtigen Sinn mehr hat und versuchen einen Weg zu finden um diesen wahnsinnigen Schmerz loszuwerden.

 

Unterstützung ist ganz wichtig während dieser Selbstfindungszeit und während sich die Familiendynamik verändert.

 

Es ist nicht ungewöhnlich, in solchen Zeiten seine Prioritäten und sogar seinen Glauben zu hinterfragen.

 

Es kann viel helfen, mit anderen über seine Erfahrung reden zu können, den Namen des Kindes erwähnen zu können, ohne dass die Menschen sich abwenden, wenn Tränen anfangen zu fließen.

 

Jede Mutter und jeder Vater, jedes Familienmitglied muss seinen eigenen, individuellen Weg finden, um die Trauer zu bewältigen.

 

 

 

 

 

Ich gieng mit gesenktem Haupte,

 

Und es unmöglich glaubte

 

Je wieder den Blick zu drehn,

 

Um Sonn` und Mond zu sehn.

 

Da hatt` auf meinen Wegen

 

Pfützen geweint der Regen,

 

Und im Vorübergehn

 

Hab` ich darein gesehn.

 

Da spiegelten Mond und Sonne

 

Sich wie im reinsten Bronne,

 

Und ohne das Haupt zu drehn,

 

Hab ich sie doch gesehn.

 

( Friedrich Rückert )