Der Tod unseres Kindes – eine Lebenskatastrophe

 

von Roland Kachler (aus dem Buch: Gemeinsam trauern - gemeinsam weiter lieben)

 

Das Leben fügt uns Menschen viele schwere Erfahrungen und Schicksalsschläge zu. Die verschiedenen Erfahrungen sollten nicht gegeneinander abgewogen werden. Dennoch: Der Tod eines Kindes ist sicherlich eine der schlimmsten Erfahrungen, die Menschen machen müssen. Wir betroffenen Eltern wissen und spüren das sofort. Der Tod des Kindes stellt alles, aber auch wirklich alles infrage. Es ist eine tiefgreifende, alles verändernde Katastrophe. Das Leben ist danach ein völlig anderes. Wir wissen nicht, wie wir den Tod unseres Kindes überleben können. Es gibt viele Gründe, warum der Tod eines Kindes eine derart überwältigende Lebenskatastrophe darstellt. Einige seien hier genannt, damit wir uns und unsere Reaktion, wenigsten zum Teil verstehen können:

• Der Tod unseres Kindes nimmt uns das liebste, was uns im Leben geschenkt wird. Niemand ist uns so vertraut wie unser Kind. Keinen anderen Menschen kennen wir von seiner Zeugung und Entstehung an, seit seinem ersten Schrei, seinen ersten kleinen Schritten.


• Keine Beziehung ist so intensiv und so nahe, wie die zu unserem Kind! Wir Mütter haben es in unserem Mutterleib gespürt und erlebt, wie es heranwuchs, wir haben es gestillt und in den Nächten getröstet. Wir Männer haben seine Geburt miterlebt, es in den Armen getragen, gefüttert und versorgt.


• Um kein anderes menschliches Wesen haben wir uns so viele Gedanken und Sorge gemacht, so viel Fürsorge und Mühe auf uns genommen. Wir haben Mitgefühl, Einfühlung und Nähe erlebt. Dabei ist eine Bindung gewachsen, die tief in unserer Seele und in unserem Körper gespeichert ist. Die tausendfach geübte Empathie hat unser Kind zu einem Teil von uns werden lassen, sodass wir mit dem Tod unseres Kindes auch uns selbst verlieren. Wir sind nicht mehr die, die wir zuvor waren.


• Mit einem Kind ist Hoffnung und Zukunft verbunden. Später werden wir immer in Situationen kommen, in denen wir uns vorstellen, dass unser Kind jetzt dieses oder jenes tun und erleben könnte. Immer wieder erleben wir neu, dass unser Kind nicht mehr leben darf. Wir verlieren die gemeinsam erhoffte und gewünschte Zukunft mit unserem Kind; wir verlieren aber auch einen Teil unserer eigenen Zukunft.


• Unser Kind ist immer auch Lebensinhalt und Lebensaufgabe. Auch wenn wir unsere Kinder nicht zu unserem Lebensinn machen sollten, so sind sie doch zentraler Inhalt und Mittelpunkt unseres täglichen Lebens – dies umso mehr, je kleiner die Kinder sind.


• Mit dem Tod unseres Kindes verlieren wir auch unsere bisherigen Familien. War es unser einziges Kind, gibt es nun plötzlich gar keine Familie mehr. Haben wir noch andere Kinder, sind wir nur noch eine >Restfamilie >, die eine ganz andere ist und in der immer etwas fehlen wird.


• Als fürsorgliche, schutzgebende Eltern erleben wir eine tiefe Ohnmacht: Wie gerne hätten wir den Tod unseres Kindes verhindert, wie sehr hätten wir es vor dem schlimmsten beschützen, wie sehr hätten wir ihm helfen wollen. Doch das, was uns als Eltern auszeichnet, gerade das war nicht möglich und hat uns die Grenzen unserer Fürsorge brutal aufgezeigt. Manchmal ist dies mit dem Gefühl des Versagens und der Scham verbunden, insbesondere wenn sich unser Kind das Leben nahm.


• Mit dem Tod unseres Kindes geht das Urvertrauen verloren. Gerade wer Kinder hat, muss davon ausgehen, dass letztlich alles doch noch gut ausgeht. Und nun haben wir erlebt, dass dieses so selbstverständliche Vertrauen in das Leben durch den Tod unseres Kindes zerstört ist. Das Vertrauen, dass unser Kind behütet und beschützt ist, wurde enttäuscht.


• Wir erleben eine tiefe Vergeblichkeit. All das, was wir für unser Kind getan haben, was wir ihm geschenkt haben, wie wir es gefördert haben – all das ist nun vergeblich. Unser Kind darf das, was wir ihm gegeben haben, nicht weiterleben und weiterführen. Wir Eltern dürfen nicht erleben, wie unsere tausendfachen Bemühungen im Leben unseres Kindes Früchte tragen können.


• Wir sind mit einer Sinnlosigkeit konfrontiert, die sich kaum lösen lässt. Die rasenden Fragen nach dem Warum zermartern unser Gehirn - eine Antwort scheint es nicht zu geben. Welchen Sinn sollte es machen, dass unser Kind sterbenskrank wurde und leiden musste? Welchen Sinn sollte der plötzliche Tod unseres Kindes machen? Welchen Sinn sollte der Tod eines jungen, blühenden und hoffnungsvollen Lebens haben? Einen Sinn für den Tod scheint es nicht zu geben und wird es wohl nie geben, auch wenn wir für unser weiteres Leben allmählich wieder Sinn finden werden.


• Als verwaiste Eltern erleben wir eine Ungerechtigkeit: Warum stirbt überhaupt ein Kind? Warum gerade unser Kind? Warum gerade wir, warum unsere Familie? Ist es gerecht, dass ein Kind sterben muss, wo doch so mancher alte Mensch sterben will und nicht darf? Auch darauf wird es wohl keine Antwort geben, und wieder bleiben wir mit einer unlösbaren Frage zurück.